Das Genre „Street Photography“
Das, was man heute als Strassenfotografie oder „Street Photography“ bezeichnet, ist eines der ersten Genres, welches mit der Entwicklung der Fotografie einherging. Auf visueller Ebene wüssten wir wenig über die Menschen aus dem letzten Jahrhundert, hätten Zeitzeugen nicht die Fotografie genutzt, um ihr Leben zu dokumentieren. Seither hat dieses Genre seine Rolle nicht nur bewahrt, sondern ist inmitten der Bilderflut unserer Zeit, in verschiedenen Variationen seiner Ursprungsform, wichtiger als je zuvor.
Street Photography lässt sich, im Gegensatz zu vielen anderen Fotografie-Genres, mit minimalem Aufwand betreiben. Man braucht lediglich eine Kamera und 1 bis 2 Objektive. Sie ist genauso einfach wie komplex und lebt von diesem Spannungsfeld.
Das Einzige, was zwischen einem selbst und der Strassenfotografie steht, ist man selbst: der eigene Blick auf die Welt, die Art, Dinge zu sehen und zu interpretieren. Wer spannende Geschichten aus dem Leben entdecken möchte, sollte einen ruhigen, scharfen und unbeeinflussten Blick entwickeln. Stereotypen und Vorurteile haben wenig Platz in diesem Prozess. Es ist wichtiger, wie wir sehen, als was wir sehen und womit wir es fotografieren.
Das Zusammenspiel von menschlichen Elementen im öffentlichen Raum sagt viel über unsere Gesellschaft, die Menschen und die Zeit, in der wir leben, aus. Die Strassenfotografie widmet sich dem Einfangen von eben diesen Momenten. Street- Fotografen machen sich auf die Suche nach dem unverfälschten Augenblick, der uns einen Einblick in das Leben erlaubt und uns etwas über uns selbst erzählt. Ein gutes Strassenfoto braucht Leben, Emotionen, eine Aussage und Energie.
Motive finden – Geschichten erzählen
Strassenfotografie lebt von Candid, also nicht gestellten Bildern, welche in den meisten Fällen ungefragt gemachtwerden. Das Unbeeinflusste, Echte, Authentische und vor allem das Menschliche spielt die Hauptrolle. Oft findet auch nach der Aufnahme keine Interaktion mit den Motiven statt. Es empfiehlt sich zudem, sämtliche Lichtsignale und Töne der Kamera zu deaktivieren. Im Moment, in dem man das Gegenüber mit dem Focus-Assist-Licht anstrahlt, löst sich jegliche Diskretion in Luft auf.
Kleine Details können grosse Geschichten erzählen. Eine Hand kann für ein ganzes Leben sprechen. Ein Spaziergänger, der mit einer tiefen Verschlusszeit fotografiert, an einem spannenden Hintergrund vorbeiläuft oder die Silhouette eines Passanten in der Abendsonne, an einem architektonisch spannenden Bahnhof, ergeben Bilder voller Spannung und Geschichten.
Ein Strassenfoto braucht aber nicht unbedingt Menschen im Bild. Auch Spuren und Kreationen von Menschen bieten sich für Bilder an, die uns zum Nachdenken anregen. Es ist eine gute Übung, einmal solche Szenen zu suchen und alltägliche Elemente zu kombinieren.
Auch muss man sich nicht in oder um eine grosse Stadt bewegen. Es ist wichtiger, das Spannende und Erzählenswerte an seinem Umfeld zu erkennen.
Das Werkzeug
Die Kamera ist das Werkzeug, welches im entscheidenden Moment schnell und zuverlässig funktionieren muss. Kein Motiv ist reproduzierbar. Die Technik ist Mittel zum Zweck, um das Bild einzufangen. Schnell wechselnde Lichtverhältnisse und sich konstant verändernde Szenerien erfordern Zuverlässigkeit, Geschwindigkeit und Flexibilität.
Sensorgrössen und Megapixel spielen eine untergeordnete, die Grösse der Kamera selbst, bzw. deren Effizienz und Diskretion, jedoch eine entscheidende Rolle. Je leiser und unauffälliger die Kamera ist, desto effizienter kann der Strassenfotograf sie einsetzen.
Das wichtigste für Strassenfotografen ist, ihre Kamera blind bedienen zu können. Innerhalb von Sekunden muss der Fotograf die Kamera funktionsbereit in der Hand halten, den Bildausschnitt definieren und Auslösen.
Wer mit der Strassenfotografie beginnt, sollte sich eine feste Brennweite aussuchen und sich an diese gewöhnen. In den meisten Fällen sind sie nicht nur lichtstärker, sondern erfordern auch eine bewusste Auseinandersetzung mit der Bildgestaltung. Mit den drei klassischen Brennweiten 35 mm, 50 mm und 80 mm ist man für alle Eventualitäten ausgerüstet.
Technische Perfektion ist sekundär. Den Moment festhalten ist wichtiger als perfekte Schärfe oder Belichtung. Wir erinnern uns an Bilder, die uns etwas bedeuten und die uns etwas mitgeben. Wir erinnern uns nicht an das schärfste Bild oder das Bild mit dem besten Weissabgleich oder den meisten Megapixeln.
Kamera-Einstellungen
Zeit ist ein kritisches Element in der Strassenfotografie. Um Zeit zu gewinnen, überlassen wir der Kamera alle Entscheidungen, die sie besser beherrscht als wir selbst. Der so entstandene Raum wird genutzt, um sich auf das Bild zu konzentrieren.
„Think about the photo before and after, never during. The secret is to take your time. You mustn’t go too fast. The subject must forget about you. Then, however, you must be very quick.“ – Henri Cartier Bresson
Blendenpriorität (Modus „A“) eignet sich ideal für dieses Vorhaben. Die Kamera übernimmt sämtliche Rechenarbeit in dem sie über die Auto-ISO Funktion konstant dafür sorgt, das eine Mindestverschlusszeit von 1/125 s eingehalten werden kann. Wer mit Blendenwerten von 5.6 bis 8 arbeitet, hat dank des erweiterten Schärfebereichs bessere Erfolgschancen, das Motiv scharf abzubilden. Hohe ISO-Zahlen ermöglichen es, auch bei knappem Licht diese Blendenwerte beizubehalten.
Leicht packen
Für den Strassenfotografen gilt beim Gang auf die Strasse: leicht packen. Eine Kamera, maximal zwei Objektive, besser eines, genügend Batterien und Visitenkarten reichen. Vor dem Verlassen des Hauses überprüfen wir, ob die Kamera richtig eingestellt ist, um keine Zeit verlieren, wenn es darauf ankommt.
Strassenfotografen integrieren sich in ihr Umfeld. Fotowesten, Velcrotaschen und auffällige Kamerastraps sind da eher kontraproduktiv. Es gilt zu vermeiden, als Fotograf aufzutreten. Andererseits wollen wir uns nicht verstecken. Offenheit verhindert, dass man einen falschen Eindruck vermittelt.
Street Zen
„Street Zen“ ist die Komponente der Geduld und der Akzeptanz gegenüber dem, was uns die Welt präsentiert und der Klarheit darüber, dass sich dies unserer Kontrolle entzieht. Es ist nicht ungewöhnlich, über Wochen kein einziges Bild gemacht zu haben, mit dem man zufrieden ist. Nichtsdestotrotz wird jedes einzelne Foto von Grund auf mit der gleichen Leidenschaft angegangen – unabhängig von Erfolg oder Misserfolg.
„Twelve significant photographs in any one year is a good crop.“ – Ansel Adams
Man weiss vorher nie, wann einem ein gutes Bild gelingt, aber die Gewissheit ist da, dass es passieren wird.
Aus dieser Ruhe schöpft man die Kraft für das Wichtigste: das Sehen. Antizipiere dein Umfeld, und erkenne was als nächstes passiert. Reagiere in der gewonnenen Zeit und bewege dich an den idealen Punkt für deine Komposition. Integriere alle Elemente in das existente Umfeld und in eine bewusste Bildkomposition. Wer dies verinnerlicht, gewinnt die Sekunden, die einem ermöglichen, in kurzer Zeit eine Reihe von kreativen Entscheidungen zu treffen.
Das Lesen von Menschen, Dynamiken und Licht ist eine essentielle Technik. Sie bereitet ungemeine Freude, da sie einen konstant in einem spielerischen Bereich hält, der nur durch einen Mangel an Gelassenheit über das Resultat gestört werden kann. In der Ruhe liegt die Kraft.
Die Wichtigkeit der Ethik, Prinzipien und rechtliche Aspekte in der Strassenfotografie
Wer sich in diesem Genre bewegt, muss sich mit der einhergehenden Verantwortungund Ethik auseinandersetzen. Es gibt Bilder, die man bewusst nicht macht und es gibt Bilder, die man nicht publiziert.
Das Bauchgefühl und die eigene Moral müssen im Einklang stehen mit dem Bestreben, ein gutes Bild zu machen. Situationen, in denen ein einzelnes Bild dem Motiv nicht gerecht wird, oder eine Situation ohne höheren Zweck, erfordern bewusste Entscheidungen.
Obdachlose und sozial benachteiligte Menschen zu fotografieren ist keine Strassenfotografie. Gleiches gilt für Menschen, die nicht in der Lage sind, sich zu wehren oder klar ihre Missbilligung ausdrücken. Wer sich unsicher ist, sollte sich fragen, ob man selbt entsprechend dargestellt werden möchte. Wer auf der Strasse fotografiert trägt Verantwortung.
Im europäischen Raum ist das Fotografieren im öffentlichen Raum zudem, im Vergleich zum Rest der Welt, eher streng geregelt, wobei zwischen Fotografieren und Publizieren unterschieden werden muss.
Wer publiziert setzt sich eher dem Risiko aus, auf Reaktionen zu treffen oder sich gar strafbar zu machen. Die Reaktionen sind in den seltensten Fällen negativ, sofern den Bildern die richtige Ethik zugrunde liegt. Durch das Anwenden dieser Prinzipien trifft man in den meisten Fällen auf interessante und positive Interaktionen.
Datenschutz Gesetze kreieren ein Spannungsfeld um die Strassenfotografie. Leider gibt es immer wieder negative Beispiele, die den moralischen Prinzipien nicht folgen und dem Genre einen schlechten Ruf einbringen.
Die Street Photography ist ein historisch und künstlerisch relevantes Genre. Viele stilbildende Ikonen der Fotografie bewegen und bewegten sich somit mit ihren Grundsätzen ausserhalb heutiger Gesetze. Manches Museum und manche Galerie wären um eine signifikante Menge an historischen Fotografien ärmer, hätten nicht immer wieder Fotografen diesen Balance-Akt mit Bravour gemeistert.
Mehr zum Thema Bild-Recht lesen Sie in Artikel „Das Recht am eigenen Bild“
Arten der Strassenfotografie
Die Strassenfotografie hat viele fotografische Geschwister:
- Documentary und Social Documentary sind der Art und der Aesthetik der Candid Strassenfotografie sehr ähnlich. Die Herausforderung besteht dabei darin, sich in ein soziales, kulturelles Umfeld soweit zu integrieren, das derFotograf zu einem Teil der Situation wird. Auch viele Arten der Reportagefotografie bauen auf ähnlichen Prinzipien auf.
- Strassenportraits verzichten auf den Candid-Moment. Sie sind inszenierte Portraits, fotografiert mit dem klaren Einverständnis und der aktiven Beteiligung des Motivs.
Mehr dazu finden Sie im Artikel von Denny Phan, ebenfalls X-Photographer, „Fremde Menschen fotografieren“
- Elemente von Strassenfotografie finden sich auch in der Hochzeits- und Eventfotografie. Im Prinzip überall da, wo Menschen natürlich dargestellt werden.
Oftmals bestehen Gesamtarbeiten von Fotografen in diesen Genres aus einer Mischung aus allen Elementen. Beispiele dafür finden sich in den Arbeiten von William Klein, Robert Frank, Steve Mc Curry und Eugene W. Smith, welche, mit unterschiedlichen Gewichtungen, verschiedene Disziplinen zu authentischen Gesamtwerken vereinen.
Im Fokus – Jens Krauser
Jens Krauer ist leidenschaftlicher Streetfotograf und offizieller FUJIFILM X-Photographer.
Sein Portfolio sowie weitere Infos zu ihm und seiner Fotografie finden Sie unter www.jenskrauer.com.